Der Nebel
Shownotes
Diese Geschichte ist mir vor vielen, vielen Jahren mal in den Kopf gekommen. Jetzt habe ich sie wiedergefunden und dachte, dass sie euch möglicherweise interessiert. Stimmt das? Wollen wir mal alle gemeinsam auf der Blumenwiese tanzen? Das würde mich riesig freuen! Schickt mir gerne ein Foto davon!
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Transkript anzeigen
00:00:02: Der Nebel war schleichend gekommen.
00:00:11: Wie?
00:00:12: Wann und warum?
00:00:13: Das konnte sie nicht sagen.
00:00:15: Er war schon so lange da, dass sie ihn gar nicht mehr wahrnahm.
00:00:19: Vielleicht so wie ein, wie ein permanenter Kopfschmerz.
00:00:23: Da spürt man den lästigen Druck ja auch erst, wenn er plötzlich verschwunden ist.
00:00:27: Dieser Nebel war ihr ständiger Begleiter.
00:00:29: Er schützte sie.
00:00:30: Nichts Bedrohliches oder Beängstigendes konnte durch ihn hindurchdringen.
00:00:34: Auch nichts Schönes.
00:00:36: Gut, aber das nahm sie in Kauf.
00:00:38: Sie vermisste nichts.
00:00:40: Sie konnte ungestört ihre Arbeit nachgehen und nichts Unvorhergesehenes stört ihren Tagesablauf, geschweige denn ihren Lebensrhythmus.
00:00:48: Sie stand jeden Morgen früh auf, legte großen Wert auf ihre Morgenthoilette und war stets tadellos und korrekt gekleidet.
00:00:56: Schließlich arbeitete sie als Sekretärin in einem Vorstandsbüro, und sie wusste, was ich gehörte.
00:01:02: Am Abend besorgte sie sich beim Kaufmann an der Ecke, den es zum Glück noch gab.
00:01:07: Wer weiß, wie lange noch.
00:01:09: Man munkelte schon etwas von einem weiteren Discounter im Viertel, nicht auszudenken.
00:01:14: Nun dort besorgte sie sich frisches Gemüse und was sie sonst noch benötigte.
00:01:19: Wenn sie dann in ihre kleine gemütliche Wohnung kam, da wurde sie, falls sie Glück hatte, und das war eigentlich immer der Fall, stürmisch von ihrer Katze begrüßt.
00:01:28: Die hatte nämlich Hunger.
00:01:30: Und die kommende Viertelstunde gehörte ausschließlich Annabelle.
00:01:33: Die Katze verlangte laut, stark miauend, sowohl nach Nahrung als auch nach Streicheleinheiten.
00:01:39: Ansonsten hatte die Katze, wie es Katzen so haben, ihren eigenen Kopf und tat nur das, was ihr in den Sinn kam und nicht das, was Frauchen wollte.
00:01:49: Dieses Begrüßungsritual verzog sich jeden Abend pünktlich um die gleiche Zeit.
00:01:54: Danach kochte sie sich selbst eine Kleinigkeit aß in aller Ruhe, am liebsten an dem kleinen Bistrotisch auf ihrem Balkon.
00:02:02: Danach wusch sie sofort ab, was weg ist, ist weg.
00:02:06: Und legte sich dann mit einem Buch aufs Sofa.
00:02:10: Ach herrlich, das Leben lief in seinen gewohnten Bahnen und alles war so schön überschaubar.
00:02:16: Das Telefon, das klingelte so gut wie nie.
00:02:18: Und wenn doch, erschrak sie zu Tode und sie wusste genau, es war ihre Mutter.
00:02:23: Sonst trief nämlich nie jemand an.
00:02:25: Selbst die Marktforschungsinstitute hatten sie offensichtlich nicht auf ihrer Liste.
00:02:30: Ihr war es recht.
00:02:31: Sie war zufrieden mit ihrem Leben.
00:02:33: Und wenn es außer Annabelle doch einmal jemand schaffte, den Nebel zu durchdringen, dann konnte sie ihm ganz schnell durch ihre Gedanken so beeinflussen, dass er noch dichter wurde.
00:02:43: Das hatte sie im Laufe der Jahre gelernt und darauf war sie stolz.
00:02:47: Nichts schlimmer als ein verliebtes Pärchen sehen zu müssen, oder eine verglückstrahlende Mutter.
00:02:54: Sie selbst war Mitte dreißig.
00:02:56: Theoretisch, also auch in dem Alter, in dem andere eine Familie gründen oder schon längst eine gegründet hatten.
00:03:03: Doch falls solche Gedanken tatsächlich einmal auftauchten, da zog sie den Nebel schnell so eng, dass sie wieder ganz alleine war und niemanden sah.
00:03:12: Das kam mir auch sehr zugute, wenn sie zweimal in der Woche joggen ging.
00:03:16: Immer am selben Tag, immer zur selben Zeit.
00:03:19: Sie brauchte ihren Rhythmus, und sie liebte nichts so sehr wie Beständigkeit.
00:03:24: Nur wenn sie abends oder am Wochenende in ihre Bücher vertieft war, da gestattete sie sich hin und weder in ihre Traumwelten hinüber zu gleiten.
00:03:33: Da gab es Aufregung und Abenteuer, Lust und Leidenschaft, da konnte sie fliegen und auf Wolken schweben, wo er von Drachen entführt und natürlich unter größter Gefahr von ihrem Märchenprinz gerettet.
00:03:45: Wenn sie dann erwachte, zog sie den Nebel noch dichter um sich.
00:03:50: Freunde, also Freunde in dem Sinne, hatte sie nicht, brauchte sie auch nicht.
00:03:56: Für spontane Verabredungen hatte sie überhaupt nichts übrig und das höchste der Gefühle war ein mindestens eine Woche im voraus geplanter Kinobesuch.
00:04:05: Am liebsten allein.
00:04:07: Er störte sie niemand.
00:04:08: Ha, weil er ständig mit ihr reden wollte, während der Film schon lief oder ihr das Popcorn weg aß.
00:04:14: Sie hatte eine Brieffreundin in Südamerika.
00:04:18: Gut.
00:04:19: Sie schrieben sich höchstens zwei bis dreimal im Jahr, wenn überhaupt, aber immerhin.
00:04:24: Und richtige Briefe, keine E-Mails, darauf legte sie großen Wert.
00:04:29: Tja, und so verging die Zeit und nichts außergewöhnliches geschah.
00:04:33: Bis sie eines Tages einen seltsamen Schmerz in der Brust verspürte.
00:04:37: Es war mehr ein Druck, und er machte ihr Angst.
00:04:40: Ein Onkel mütterlicherseits war am Herzinfarkt gestorben.
00:04:43: Sie sollte doch wohl nicht.
00:04:45: Aber nein, bestimmt war alles ganz harmlos, sie war doch noch so jung.
00:04:49: Vorsichtshalber ließ sie sich einen Termin geben.
00:04:52: Und der Arzt untersuchte sie gründlich von Kopf bis Fuß, und als er ihr dann seine Diagnose stellte, war sie vollkommen verblüfft.
00:05:00: Ihr Herz war zu leer.
00:05:02: Es müsse schnellstens gefüllt werden, sagte der Arzt, möglichst mit schönen und angenehmen Dingen.
00:05:07: Ansonsten besteht die Gefahr, dass es Schrumpfe und zu klein werde, um dann noch ordnungsgemäß schlagen zu können.
00:05:13: Da musste sie sich erst einmal setzen.
00:05:16: Ihr Herz fühlen.
00:05:17: Wie sollte sie das denn anstellen?
00:05:20: Der Arzt stellt ihr einige Fragen und dreht ihr dann, sie möge beginnen, den Nebel aufzulösen, den Schleier zu lüften, damit ihr Herz überhaupt erreicht werden könne.
00:05:29: Sie solle sich auf eine bunte Blumenwiese legen, einfach nur da liegen und nichts tun.
00:05:34: Hatte mein Bitte schon, schonmal so etwas Verrücktes gehört.
00:05:39: Sie verließ den Arzt und war ziemlich verstört.
00:05:42: Plötzlich geriet ihre kleine Welt ins Schwanken, ihr Herz zu leer.
00:05:47: Sie sollte sich auf eine Blumenwiese legen.
00:05:49: Wann denn bitte schön?
00:05:51: Und Annabelle?
00:05:52: Die würde zu Hause sitzen und auf sie warten und bestimmt ganz jämmerlich miauen.
00:05:58: Doch dann dachte sie an den Onkel Mütterlicherseits.
00:06:00: Dieser Tag war so oder so schon völlig durcheinander und chaotisch.
00:06:04: Nichts war wie sonst.
00:06:06: Warum?
00:06:06: Ja, warum sollte sie sich da nicht auch noch auf eine Blumenwiese legen?
00:06:11: Gab es hier überhaupt Blumenwiesen?
00:06:13: Und wenn ja wo, wann hatte sie denn zum letzten Mal bewusst eine Wahr genommen?
00:06:19: Im Internet wurde sie fündig.
00:06:21: Manchmal war diese moderne Technik dann ja doch Gold wert.
00:06:25: Sie stieg in die Bahn und fuhr, wohin das Netz sie schickte.
00:06:29: Und nach einem kleinen Spaziergang fand sie tatsächlich die beschriebene Wiese.
00:06:34: Vorsichtshalber hatte sie eine Decke mitgebracht und die breitete sie nun aus und legte sich darauf.
00:06:40: Und wartete.
00:06:42: Nichts geschah.
00:06:45: einfach so da liegen, und nichts tun, das kann sehr anstrengend sein, wenn man es nicht gewohnt ist, was sie alles in dieser Zeit hätte erledigen können.
00:06:54: Doch sie wartete, wie der Arzt es ihr geraten hatte.
00:06:58: Und plötzlich überkam sie eine große Ruhe.
00:07:02: Sie atmete tief und gleichmäßig, und spürte auf einmal eine angenehme Schwere.
00:07:08: Weder die Arme noch die Beine oder der Kopf ließen sich bewegen, und es störte sie überhaupt nicht.
00:07:14: Sie fühlte sich wohl, richtig wohl, zum ersten Mal seit Ewigkeiten vollkommen entspannt.
00:07:21: Ah, was war das?
00:07:24: Plötzlich huschte ein Schmetterling durch ihren Nebel.
00:07:27: Er war wunderschön gelb.
00:07:28: An Zitronenfalter?
00:07:30: Vielleicht.
00:07:31: Sie hatte nur den Namen schon einmal gehört, was wusste sie denn sonst über Schmetterlinge?
00:07:36: Ah, und noch einer.
00:07:38: Sie sah über sich immer mehr Schmetterlinge in allen Farben und sie waren wunderschön anzusehen.
00:07:43: Es war ihr zuvor nie aufgefallen, wie auch sie hatten ja ihren Schleier bislang nie durchbrechen können.
00:07:49: Und es schien, als ob die Schmetterlinge durch ihren Tanz der Nebel nach und nach auflösten, ihn mit sich fortdrogen, denn es wurde immer heller und heller um sie herum.
00:07:59: Die Sonne schien ihr plötzlich mitten ins Gesicht.
00:08:02: Wie lange hatte sie das denn schon nicht mehr erlebt?
00:08:05: Eine Sonnenbrille, dachte sie im ersten Moment panisch, ich brauche eine Sonnenbrille.
00:08:10: Doch dann überkam sie wieder dieses wohlige Gefühl, und sie genoss die warmen Strahlen, die ihr Gesicht so zärtlich streichelten.
00:08:17: Auf einmal Drangvogel gezwitschern ihr Ohr.
00:08:20: Erinnerungen stiegen in ihr Hoch, die eine Ewigkeit zurückzuliegen schienen.
00:08:24: Wie herrlich sie sangen!
00:08:26: Sie wurde noch ruhiger, und schließlich schlief sie ein.
00:08:29: Sie hatte einen wunderschönen Traum, in dem sie auf einer herrlichen Blumenwiese lag.
00:08:34: Die Sonne schien ihr warm ins Gesicht, vögel zwitscherten und sangen ganz wunderbar, und um sie herum tanzten hunderte von Schmetterlingen.
00:08:41: Sie stand auf und sahen sich herunter.
00:08:44: Da trug sie ein luftiges, schönes Sommerkleid, so eins, wie sie als Kind gerne getragen hatte.
00:08:51: Zunächst noch ganz vorsichtig begannen sie, sich im Kreis zu drehen.
00:08:55: Nach und nach wurde sie mutiger.
00:08:57: Wie schön, das war, wie gut das tat!
00:09:00: Die Arme weit ausgestreckt drehte sie sich im Kreis und hanzte über die Blumenwiese.
00:09:06: Zum ersten Mal seit langer Zeit lachte sie aus vollem Herzen, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.
00:09:13: Und da erwachte sie mit einem leicht salzigen Geschmack auf der Zunge.
00:09:17: Traurig, dass ihr Traum schon zu Ende war.
00:09:19: Doch als sie sich umschaut, da lag sie immer noch auf der schönen Blumenwiese.
00:09:24: Die Sonne schien ihr warm ins Gesicht, Die Vögel zwitscherten und sangen ganz wunderbar, und um sie herum tanzten noch die Schmetterlinge.
00:09:33: Der Nebel war verschwunden.
00:09:35: Da sah sie an sich herunter.
00:09:37: Alles war wie in ihrem Traum, nur das schöne Sommerkleid fehlte.
00:09:41: Stattdessen trug sie Hosen.
00:09:43: Ob es dennoch ging?
00:09:45: Sie stand vorsichtig auf, breitete ihre Arme aus und begann zu tanzen.
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